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Leseprobe - Der Bestseller, Teil 3

von Rainer Popp

E-Book:
335 Seiten, 8,00 €uro
ISBN 3-936880-11-5

Download: www.dante-verlag.de
In Vorbereitung: (erscheint im Frühjahr 2003)
Print-Book, 356 Seiten, 19,90 €uro
(A)20,50 € (CH)35,90 sFr
Klappbroschur, gebunden

 

Eiskalter Ruhm



Der dritte Band dieser Roman-Trilogie schildert die letzten Stationen, die das selbstgewählte Schicksal für die aus der Bahn geratenen Protagonisten bereithält - für den Verleger und seinen Autoren. Sie hatten sich in einem teuflischen Pakt füreinander entschieden und einen Bestseller herausgebracht, der auf einem Komplott beruht.
Nach dem Ansehen, dem Reichtum und dem Ruhm, von dem sie viel abbekommen haben, und nach dem Zusammenbruch ihrer bombastischen Pläne, die noch höher hinauswollten, erfolgt jetzt die dramatische Abrechnung ihrer gemeinsamen Lügen, ihrer in aller Öffentlichkeit ausgeführten Manipulationen und all ihrer persönlichen Selbsttäuschungen. Sie werden, jeder auf seine Weise, zur Rechenschaft gezogen.
Hineingeworfen in ihre Leben stehen Alexander Wulff und Thomas Kaar vor weiteren Gabelungen ihres Weges, die ihnen Antworten abverlangen auf die Fragen nach ihrem Standort und ihrer zukünftigen Orientierung. Wohin sollen sie gehen? Wie sollen sie sich verhalten? Aber so wie am Anfang ihrer Begegnung, als der vermeintliche Zufall sie zusammenführte, erkennen sie nicht, daß diese Entscheidungen zugleich unwiderrufliche, unwiederholbare Augenblicke der Wahrheit sind, Augenblicke der Abrechnung, Augenblicke, die in den Ruin führen oder - letzten Endes - zur Wahrhaftigkeit. Und für einen von ihnen erweist sich sein größtes Unglück zum Schluß als sein größter Triumph. Er findet im Angesicht des Todes die Kraft zu einem Geständnis und damit die Chance, in der Reue über seine Schuld zurückzufinden zur Redlichkeit und zur Selbstachtung
Dieses dreibändige Werk von Rainer Popp ist eine spannend dargestellte, ergreifend geschriebene, tiefgründige Allegorie über die Korrumpierbarkeit des Menschen, in die er sich verstrickt in seiner Gier nach Macht und Geld. Und es legt darüber Zeugnis ab, daß ein Ziel, und sei es noch so notgedrungen, die Mittel nicht heiligt.


ERSTER TEIL: Der Abstieg

An wen sollte
sie sich wenden,
diese vergötterte Figur,
die zu Bruch gegangen war
und zerfallen
zu einem verstreuten Haufen Scherben?


1. Kapitel

Die Schläge der Faust, die mit dem Handballen gegen die Wohnungstür krachten und widerhallten an den Betonwänden im Rechteck des Flures, setzten sich fort in ihrem dumpfen Echo drei Fahrstuhlschächte tiefer. Die Stimme des Mannes, der zum sechsten Mal am Heiligen Abend gegen elf Uhr morgens im obersten Stockwerk eines Hamburger Hochhauses am Mexiko-Ring einen Namen rief, wurde immer lauter, und sein Tonfall schwoll an in einem abwechselnden Ausdruck von schneidender Aggressivität und tiefer Besorgnis.
Für einen Moment überlegte der 52jährige schnauzbärtige Mann, dessen Haare und Schultern von schmelzenden Schneeflocken bedeckt waren, die Feuerwehr zu rufen und gewaltsam in das Penthouse einzudringen. Vielleicht hat er sich was angetan, dachte Alexander Wulff, der einen zweireihigen, dunkelblauen Kaschmir-Mantel und einen grauen Nadelstreifen-Anzug trug. So gesehen repräsentierte er makellos den Berufstand, dem er einst angehörte: Verleger belletristischer Bücher. Daß sein Unternehmen nicht mehr existierte und ein paar Wochen zuvor, einschließlich seines eigenen Vermögens bankrott gegangen war, dafür gab es optisch keinerlei Anzeichen. Seine gepflegte Erscheinung, die herrührte aus seinen alten Kleiderbeständen, war intakt geblieben. Jeder hätte ihm den Firmenführer abgenommen, hätte ihn klassifiziert als Manager der obersten Kategorie. In seinen Gedanken jedoch ließ ihm der Umstand, sein Ansehen, sein Geld und seine Zukunft verloren zu haben, keine ruhige Minute.
„Kaar! So machen Sie doch auf! Kaar!“ rief Wulff erneut und schlug mit seiner Faust gegen die Tür. „Ich bin gekommen, um Sie einzuladen... heute abend zu mir nach Hause... Weihnachten feiern. Meine Frau würde sich ebenfalls sehr freuen. Sie hat ein schönes Essen für uns vorbereitet.... Mein Lieber, an einem solchen Tag sollten Sie nicht alleine bleiben... Glauben Sie mir. Wenn man das tut, geht’s einem noch elender... Ich würde Sie abholen am frühen Abend.“
Wulff hielt seinen Kopf dichter an die Tür und horchte, ob er im Inneren der Wohnung Geräusche vernehmen würde.
„Kaar! So antworten Sie doch. Ich bitte Sie sehr herzlich. Es reicht mir schon, wenn Sie nur einmal kurz ja sagen... oder brummen oder husten. Ich mache mir wirklich große Sorgen um Sie. Seit ich das letzte Mal hier gewesen bin, habe ich nichts von Ihnen gehört. Auf Anrufe reagieren Sie ja überhaupt nicht. Ich hab’ es immer wieder versucht..... Übrigens: wollte mich auch nochmals für den Scheck bedanken... hat mir zur rechten Zeit sehr geholfen das Geld....“
Thomas Kaar war nach dem vierten Klingeln und dem dritten Klopfen wach geworden und aufgestanden aus seinem zerwühlten Bett. Er hatte die Stimme von Wulff vernommen und abgewartet, daß er wieder gehen würde. Er, nackt und halb betrunken, der auf Zehenspitzen an das Guckloch herangeschlichen war und der jetzt seinen Atem ruhig stellte, wollte ihm nicht antworten, wollte kein Gespräch mit ihm führen und ihm erst recht nicht aufmachen, oder ihn gar hereinbitten in seine Wohnung, die ein Müllplatz war, und in der es roch wie in einer Kneipe.
„Dann werd’ ich mal gehen“, hörte Kaar ihn rufen. „Fröhliche Weihnachten für Sie. Ich melde mich in den nächsten Tagen erneut bei Ihnen. Ich werde solange wiederkommen, bis Sie endlich mit mir reden und mich reinlassen.“
Kaar verhielt sich weiterhin still und lauschte, bis die Fahrstuhltür hinter Wulff zugeschlagen war. Dann tapste er wieder zurück in sein Schlafzimmer und rollte sich ein in das Zudeck aus schwarzem Satin, auf dem die Flecken von abgetropftem Fett, der vergossene Rotwein, die Reste von Zigarettenasche und die zerdrückten Pizzastückchen erst beim genaueren Hinsehen auffielen. Über dem Bett schwebte der stechende Geruch von mangelhafter Körperhygiene, stickiger Luft und dem abgestandenen Qualm unzählig gerauchter Camel.
Sein Gesicht war spitz und hager geworden, als hätte er eine wochenlange Fastenkur hinter sich oder einen Kriegseinsatz. Der Vollbart, so schwarz wie Schuhcreme, verstärkte diesen Eindruck noch. Doch eigentlich sah er aus wie jemand, der gefaßt war auf sein Sterben und der keine Entschlußkraft mehr hatte, sich aufzulehnen gegen seine Schwermut, der ausgeweidet war von jeglicher Illusion, der keinen Sinn mehr darin fand, von seinem Lager aufzustehen, der es nicht mehr vermochte, die Finsternis zu verlassen, die ihn umgab - in seinem Inneren und in diesem Luxus-Apartment, in dem am Tag und in der Nacht die Jalousien heruntergelassen waren und das sich seit Elsas Tod in eine wie von Heroinsüchtigen verwahrloste Absteige verwandelt hatte.
Trotz seines Alkoholpegels, der seit mehr als einem Monat nicht mehr abgesunken war in die Nähe einer Nüchternheit, hatte er, dieser verblichene Star-Autor, noch genügend klaren Verstand übrigbehalten, sich vorzurechnen, warum er hier gestrandet war - auf dieser Doppelkern-Federmatratze im französischen Stil, die von Flecken übersät war, von der Stunde an, da er im Bett seine Nahrung zu sich nahm. Einige Sprenkel waren sein Sperma, das aus Elsas Schoß gesickert war während ihres Schlafs; andere alter Bordeaux, ein paar Fischsoße; vier, die noch frisch waren, stammten von zerdrückten Champignons, zwei von Pommes Frites, die ihm als Tütenportion von einem Lieferservice ins Haus gebracht worden waren. Eine Lache, in Form und Farbe verlaufen wie ein Fladen getrockneten Watts, hatte sich gebildet, als ihm eine Tasse Kaffee umkippte und er am Oberschenkel verbrüht worden war.
Kaar blickte sich um, und er erkannte, daß er die Situation, in der er sich befand, mit dem Müll um ihn herum und der Dunkelheit, schon einmal durchlebt hatte: genau so abgemagert vor sich hingedämmert, genau so heruntergekommen ausgesehen, genau so elendig sich gefühlt. Er erinnerte sich, daß es noch keine zwei Jahre her war. Und ihm ging durch den Kopf, was sich seither alles verändert hatte in seinem Leben und es dennoch fast gleich geblieben war.
Damals war er noch kein wohlhabender Mann gewesen, damals verdiente er sein Geld als freier Mitarbeiter eines Instituts für Demoskopie. Damals war sein Name noch nicht verbunden mit einem Bestseller-Roman, von dem mehrere Millionen Exemplare verkauft wurden, damals hielten ihn verheiratete Frauen aus und bezahlten seine Anzüge und die Rechnungen in Fünf-Sterne-Hotels, in deren Suiten er seine Potenz anwendete und seine laszive Phantasie obendrein gab. Damals hatte er ein abgebrochenes Jurastudium hinter sich und die Hoffnung auf eine erfolgreiche Zukunft vor sich, damals war er noch kein prominenter Schriftsteller, dem seine Leser auf offener Straße nachliefen und um ein Autogramm baten. Damals hatte er sich noch nicht dazu hergegeben, ein Buch zu veröffentlichen, das von einer Frau geschrieben worden war, damals war das zweite Komplott zu einem weiteren Buch noch nicht gescheitert, das ein Mann verfaßt hatte, und er, der wiederum seinen Namen über das Buch dieses anderen Autoren gesetzt hatte, als Urheber noch nicht von der Kritik in tausend Fetzen gerissen und von seinen Lesern abgelehnt worden. Und er hatte Alexander Wulff noch nicht gekannt, der sich diesen Plan ausgedacht, ihn ausgeführt und damit den MoRus-Verlag in den Konkurs getrieben hatte.
Noch eine Tatsache beschäftigte Kaar, der sich aufgerichtet hatte zwischen den Kissen und eine Zigarette rauchte: der tödliche Autounfall von Elsa. Wie die Polizei ihm mitgeteilt hatte, war sie am Ende einer geraden Strecke zu Beginn einer Kurve geradeausgefahren und mit ihrem Fiat Spider gegen einen Baum geprallt. Nach den Aussagen von Zeugen war sie nicht angeschnallt gewesen und auf der Stelle tot. Wie es zu dem Unglück gekommen war, dafür hatte es keine Erklärungen gegeben. Bremsen, Lenkung, Reifen - alles sei, wie die Überprüfung ergeben habe, in Ordnung gewesen.
Er nahm einen Schluck Wein aus der Flasche, legte sich flach hin auf das Laken und blickte sein Leben an, so wie es gerade war an diesem Heiligen Abend um die Mittagszeit: Er war achtunddreißig Jahre alt, ein Meter sechsundachtzig groß. Er war reich, verwahrlost, versoffen und einsam. Und er wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte. Die Ereignisse der vergangenen Monate hatten ihn auf dem Höhepunkt seiner Karriere aus der Bahn geworfen. Er war aus dem Scheinwerferlicht und aus dem Jubel seiner Anhänger herauskatapultiert worden in dieses Versteck, in dem er, mit einem herrlichen Rundblick über Hamburg, nach einer Entscheidung suchte und einem Ausweg.
Außer einem Bankkonto, das mit den Honoraren seines ersten Bestsellers gut gefüllt war, besaß er nichts, auf das er irgendeinen Wert seines Selbstbildnisses stützen konnte: Seine Anerkennung als Dichter, der er nicht war, hatte er eingebüßt. Seine Geliebte, mit der er zusammengelebt hatte in diesem Penthouse, war ums Leben gekommen. Der Verlag, in dem die beiden Romane unter seinem Namen erschienen waren, existierte nicht mehr.
Seine offizielle Berufsbezeichnung, die er angab, wenn er danach gefragt wurde, lautete: Schriftsteller. Unter diesem Begriff war er auch berühmt geworden. Sein Gesicht war so populär wie das des Vorsitzenden einer Partei. In Tausenden von Buchhandlungen waren Fotos von ihm ausgestellt worden, und die öffentlich-rechtlichen TV-Sender hatten Werbespots ausgestrahlt, in denen er, dargestellt wie ein übermenschlicher Superstar, für seinen neuen Roman geworben hatte. Er hatte Dutzende von Lesungen vor mehreren hundert Menschen veranstaltet, hatte Radio- und Fernseh-Interviews gegeben und auf allen Kanälen in Talk-Shows brilliert - mit seinem attraktiven Aussehen, seiner witzigen, geistreichen Schlagfertigkeit und mit seinem zurückhaltenden Charme, vor dem Frauen jeden Alters reihenweise in die Knie gingen.
So verludert, wie er jetzt aussah - ungewaschen, abgemagert, das fettige Haar schulterlang, eingefallene Augen - hätte ihn keine wiedererkannt von seinen vielen Bewunderinnen. Nun war er ein dürrer, ein verzweifelter, ein unentschlossener Mann, der seine Tatkraft verloren hatte und seinen Mut, der sich ekelte vor sich selbst, der sich wegschloß in seinem Dasein, der sich über war bis zur Höhe der Kehle, der auf ein Wunder wartete, das ihn befreien und ihn herausführen sollte aus seiner Verzweiflung.
Mit der nächsten Zigarette, die er sich ansteckte, blieb sein Zustand unverändert: In seinem zweihundert Quadratmeter großen Horst über der Stadt lag dieselbe Dunkelheit, roch es weiterhin streng nach der Duftmischung aus Kippen, verschimmelten Pizza-Resten und Schweiß, trugen sich seine torkelnden Gedanken nach wie vor zu, ohne daß er fähig war, sie zu ordnen und sie seinem Willen gemäß zu einem durchdachten Handlungsstrang zu bündeln.
Die Zeit bis siebzehn Uhr verbrachte Thomas Kaar damit, an die Decke zu starren und sich eine Lösung von dort zu erhoffen, irgendein Zeichen zu erhalten, einen Wink zu erkennen, ein Flüstern von oben herab zu hören, das sich ihm zu erkennen gab als die Stimme, der er folgen sollte. Aber es kam nichts aus dieser Richtung. Es blieb still um ihn und still in diesem Zimmer, in dem er sich seit Wochen versteckt hielt. Niemand sagte etwas zu ihm. Kein Wort des Schicksals, das er als Erlösung erbeten hatte. Keine Silbe der Wegbeschreibung von einer Fee, die ihre Hand nach ihm ausstreckte, nach diesem ausgemergelten Mann, der hineingestoßen worden war in seine ungewisse Zukunft.
Vor den Fenstern peitschte sich der Schnee im Kreis herum wie ein Schwarm gekalkter Motten, und der Wind, der sich trudeln ließ durch die abendliche Dunkelheit und seine baumdicken Lufttaue herumwirbelte vor der Fassade des Hochhauses, scheuerte seine Böen an den scharfen Kanten des Betons. Schwaden von Weiß, die zerstoben und wieder gegrapscht wurden von gläsernen Fäusten, sausten hin und her durch flackernde Lichtkorridore. Schrille Geräusche, die mal wie Heulen klangen, mal wie Schreien und Lachen, mal wie das Stampfen der Schaufelräder von Raddampfern, jagten sich, aufgescheucht von jammernden Pfeiftönen, gegenseitig die jaulenden Melodien ab. So wird es auch klingen, wenn sich der Teufel nähert und seine Klienten anspricht, dachte Kaar, der plötzlich Heißhunger verspürte auf gebratenes Fleisch, auf Karotten, auf einen Berg von Kartoffeln und zehn Kugeln Eis.
Sein Bestand an Banknoten und Münzen reichte jedoch nicht einmal mehr aus für eine Bratwurst. Er zog sich eine Cordhose an, einen Pullover und seinen Mantel drüber, verließ das Haus und ging, vornüber gegen den Sturm gestemmt, drei Straßen weiter zu einem Geldautomaten, an dem er sich mit seiner Kreditkarte bediente. In einer Tankstelle kaufte er fünf Stangen Zigaretten und sechs Flaschen Rotwein. Mit drei Tüten in den Händen, in denen er seine Besorgung verstaut hatte, kehrte er, begleitet vom Geläut der Glocken, in seine Wohnung zurück. Dort orderte er telefonisch bei einem Lieferservice ein Weihnachtsmenü für zwei Personen und dazu eine Eisbombe.
„Es kann aber eine Stunde und länger dauern“, sagte der Mann, der Kaars Bestellung entgegennahm. „Wir haben furchtbar viel zu tun. Alle Leute, die nicht in die Kirche gehen, wollen jetzt ihr Essen um diese Zeit.“
„Ich kann warten“, sagte er und fügte hinzu, daß der Fahrer bei Sandner-Koch klingeln solle. Sein eigener Name sei auf dem Schild nicht vermerkt.
Mit einem Besen, nach dem er lange suchen mußte, bis er ihn schließlich fand in einem Abstell-Raum hinter der Küche, fegte er den Unrat weg, der sich vor seinem Bett abgelagert hatte. Er brauchte den Platz, um dort eine Kamelhaar-Decke auszubreiten, die ihm als Unterlage dienen sollte für seine Weihnachts-Mahlzeit. Er holte ein Trinkglas, entkorkte eine Flasche und goß sich einen Probeschluck ein. Zwei dicke Kerzen, die er im Flur fand, stellte er zu beiden Seiten des Kopfendes seiner Speisetafel.
Der Fahrer, der ihm die Speisen anlieferte, war ein Farbiger, der ohne Akzent und ohne einen grammatikalischen Fehler Deutsch sprach. Kaar gab ihm ein Trinkgeld, das so hoch war, wie andere nicht für eine Weihnachtsgabe aufwenden, die für die Mutter gedacht war.
„Ein fröhliches...... gesegnetes Fest wünsche ich Ihnen“, sagte er, nachdem er sich mit dem Satz bedankt hatte: „Das ist mein einziges Geschenk..... mein größtes.“
„Ebenso für Sie“, antwortete Kaar.
Insgesamt waren es elf verschiedene Pappschachteln, in denen das Essen verpackt war. Ehe Kaar sie alle auf die Decke stellte, eine Schallplatte von Gustav Mahler auflegte und begann, mechanisch die Nahrung aufzunehmen, entkleidete er sich wieder und erschien nackt zu Tisch. Die Tonkaskaden der 3. Symphonie dröhnten durch sämtliche Räume.
Obwohl Kaar großen Hunger hatte, ließ er sich Zeit. Er kaute langsam, er schluckte gemächlich, er trank in Ruhe. Auf diese Weise, bäuchlings ausgestreckt auf dem Boden, sein Kinn auf derselben Ebene wie die gedünsteten Bohnen und das Bratenfleisch, hatte er noch nie den Heiligen Abend verbracht. Ein Jahr zuvor war er mit Elsa zusammengewesen. Sie waren ausgegangen zum Essen und hatten anschließend zu zweit den Abend in ihrem Apartment verbracht und die Nacht gefeiert in ihren wilden Umarmungen.
Seit ihrem Tod hatte er nichts angerührt von ihren Sachen. Ihre Kleider hingen noch im Schrank, ihre Unterwäsche war gestapelt in den Fächern, ihre Blusenkollektion aufgereiht, ihr Schmuck verstreut auf der Glasunterlage der Spiegelkonsole. Ihre Lippenstifte und ihre Makeup-Pinsel lagen daneben. Drei Flakons Eternity-Parfüm, in Leder und Gold gefaßt, standen erhöht auf einer Kommode. Er wußte nicht, was er tun sollte mit all dem, was ihr gehörte, so wie er nicht wußte, was er mit sich tun sollte in den nächsten Tagen, im nächsten Monat, im neuen Jahr.
Sich als Dichter ausgeben und Bücher vermarkten, das ging nicht mehr. Es gab kein neues Manuskript für ihn, das er unter seinem berühmten Autoren-Namen hätte unters Volks bringen können, und es gab den Verlag nicht mehr, der diesen Betrug in doppelter Ausfertigung inszeniert hatte und daran zugrunde gegangen war. Wieder in seinem alten Beruf arbeiten und unter Hausfrauen Befragungen durchführen über Küchen und Kochen, das war ebenfalls nicht mehr möglich. Sein Name und sein Gesicht waren noch zu bekannt in der Öffentlichkeit. Selbst wenn er es gewollt hätte, wieder als Klinkenputzer zu arbeiten, keine Firma hätte ihn für diesen Gelegenheitsjob angestellt, den ehrwürdigen Romancier, als der er immer noch galt bei etlichen seiner Leser, die er mit dem ersten Werk geradezu verzückt, die er aber mit dem zweiten Kaar-Band, der am 23. Oktober, seinem Geburtstag, erschienen war, tief und anhaltend enttäuscht hatte.
Als Kaar alles aufgegessen und die Flasche Wein geleert hatte, als Mahlers Musik auf beiden Seiten abgelaufen war, als er an Elsa gedacht und sich an ihr strahlendes Lächeln erinnert hatte, als er seine Einsamkeit spürte, die ihm die Gedärme umstülpte und sein Herz umklammerte, als er voll Schmerzen war und ohne eine Spur von Zuversicht, als er sich über hatte und aufstieß, als er Tränen spürte, die sich nach vorne drängten in die Schlitze seiner Augenwinkel, als er keine Kraft mehr aufbrachte, sich seiner Beklemmung zu widersetzen, als er ins Badezimmer ging und sein Spiegelbild ansah, da überkam ihn kurz vor dem Ende dieses Heiligen Abends ein Gefühl wie der Erstickungstod in kalter Asche, die jemand, der hinter ihm stand als Schatten, über ihm ausschüttete und ihm, über die Schulter gereicht, in seinen Mund stopfte. Er schüttelte sich, zitterte, sackte runter auf die Knie und erbrach, nach einer schnellen Drehung zur Toilettenschüssel, im hohen Bogen mehrere Liter einer Brühe, die rot gefärbt war wie verdünntes Blut. Es kam alles raus, was drin war in ihm an Unverdautem, an Säure und Alkohol, an Magensäften, Speichel und angekauten Bruchstücken.
In diesem herausgespritzten Ekel, der sich nach dem letzten Würgen abseilte von seinen Lippen an drei elastischen Fäden, verbunden mit einem Schwächeanfall und Schwindel, schleppte sich Kaar keuchend und spuckend zurück in sein Bett - halb gehockt, halb kriechend. Sein Speichel, der geschäumt zusammenlief in der Senke unter dem Gewölbe seines Gaumens, schmeckte wie Rostfraß und angefaultes Brunnenwasser. Er atmete schnell; viel zu schnell, fast in dem Tempo wie das Hecheln eines erschöpften Hundes. Auf seiner Stirn hatten sich Perlen von Schweiß gebildet. Seine Brust war naß. In der Kuhle seines Bauchnabels hatte sich Wasser angesammelt. Seine dünnen Beine - bleich und kalt - fühlten sich an wie abgestorben.
Was sollte werden aus ihm, aus diesem redegewandten Schönling, der im Rampenlicht gestanden hatte und über Nacht aus allen Wolken gefallen war? An wen sollte sie sich wenden, diese vergötterte Figur, die zu Bruch gegangen war und zerfallen zu einem verstreuten Haufen Scherben? Wohin sollte er gehen, dieser vorübergehende Herr der Zeitgeschichte, der gerade so viel Talent von einem Schriftsteller besaß wie ein Uhrmacher von einem Schwergewichtsboxer? Wer konnte ihm helfen, diesem schiffbrüchigen blinden Passagier, der über Bord geworfen worden war? Von wem sollte die Rettung kommen, für dieses männliche Wesen aus Treibsand, das nichts mehr beieinanderhielt? Welcher Mensch könnte ihn trösten, diesen Spieler, der trotz gezinkter Karten verloren hatte? Thomas Kaar, dieser Halunke, der er war, dieser Hanswurst, den er vor sich abgab, dieser Hochstapler, zu dem er sich rechnete, dieser Hasardeur, mit dem er sich beliebte, dieser verstoßene Höfling, zu dem er als Teilhaber des Komplotts geworden war, dieser Haufen Elend, der vor sich hinröchelte und Angst hatte zu sterben, dieser hustende, im Schüttelfrost bibbernde, zerschundene Beau kam sich nicht mehr vor - als nichts mehr.
Zum zweiten Mal an diesem Tag, der seine Datumsgrenze in wenigen Sekunden überschreiten würde, hörte er die Glocken läuten. Und während Kirchgänger in die Mitternachtsmessen strömten und sich im Gebet verneigten vor dem Gekreuzigten, dessen Geburt sie gedachten, schrie sich Kaar halbtot in der Stille seines Schweigens.


© Dante-Verlag 2002
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Leseprobe - Der Bestseller Teil 3

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